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Belgische Aktenstücke 1905-1914 (Typescript 1 t/m 5)

Berichte der belgischen Vertreter in Berlin, London und Paris an den Minister des Aeußeren in Brüssel – Herausgegeben vom Auswärtigen Amt. / Berlin – Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Königliche Hofbuchhandlung, Kochstraße 68-71

Belgische Aktenstücke

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Archive der belgischen Regierung haben bereits verschiedene Dokumente von geschichtlicher Bedeutung zutage gefördert. Erneute Nachforschungen haben zum Auffinden weiteren wertvollen Materials, nämlich der Berichte der belgischen Gesandten im Auslande an die belgische Regierung, geführt. Die aufgefundenen gesandtschaftlichen Berichte bieten ein ungewönliches Interesse als Quellenmaterial für die Vorgeschichte des Krieges. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie geschrieben sind von den Vertretern eines Staates, der an der großen Weltpolitik nur mittelbar, sozusagen nur als Zuschauer beteiligt war. Die Berichte können daher den Anspruch erheben, als eine objektive diplomatische Darstellung der internationalen Politik vor dem Kriegsausbruch zu gelten. Zieht man die Sympathien des ganz dem französischen Einfluß verfallen belgischen Volkes für die Westmächte in Betracht, Sympathien, die ihren Ausdruck fanden in der feindseligen Haltung, die die gesamte belgische Presse Deutschland gegenüber stets eingenommen hat, so ist es um so bemerkenswerter, daß die Berichterstattung der belgischen Gesandten ein Anklagematerial gegen die Politik der Ententemächte enthält, wie es vernichtender kaum gedacht werden kann.

Im folgenden wird eine Anzahl von Berichten der belgischen Gesandten in Berlin, London und Paris aus den Jahren 1905 bis 1914 veröffentlicht, in denen in der denkbar prägnantesten Form hervortritt, daß es die im Jahre 1904 von England eingeleitete, gegen Deutschland gerichtete Ententepolitik gewesen ist, die tiefe Spaltungen in Europa hervorgerufen hat, welche schließlich zum gegenwärtigen Kriege führten. Die englische Regierung als Triebfeder, König Eduard VII. als Bannerträger der auf die Isolierung Deutschlands gerichteten Bestrebungen der Entente bilden ein immer wiederkehrendes Thema der Berichte. Mit großem Scharfblick haben die Gesandten schon sehr früh erkannt, wie er durch den Dreibund während Jahrzehnten gesicherte Weltfriede durch die politischen Bestrebungen der Entente gefährdet wurde. Daß der englischen Feindseligkeiten gegen Deutschland lediglich die Eifersucht Englands auf die Entwicklung Deutschlands in industrieller und kommerzieller Hinsicht sowie auf das Erblühen der deutschen Handelsflotte zugrunde lag, findet in den Urteilen der belgischen Gesandten volle Bestätigung. Die englische Überhebung und die Ansprüche Englands auf Monopolisierung des Welthandels und beherrschung der Meere, das Treiben der englischen Hetzpresse werden gebührend gekennzeichnet.

Die Unaufrichtigkeit der französischen Marokkopolitik, die fortgesetzten Vertragsbrüche Deutschland gegenüber, die sich Frankreich mit Unterstützung Englands in Marokko hat zuschulden kommen lassen, werden festgestellt. Auf das bedrohliche Anwachsen des französischen Chauvinismus und das Wiederaufleben der deutsch-französischen Gegensätze als Ergebnis der Entente mit England wird hingewiesen. Umgekehrt finden die Friedensliebe des Deutschen Kaisers, die friedlichen Tendenzen der deutschen Politik und die große Langmut Deutschlands den Provokationen Englands und Frankreichs gegenüber volle Anerkennung.

Die lange Reihe der belgischen Berichte liefert den bündigen Beweis, daß diese kühl beobachtenden Diplomaten eine klare Vorstellung davon hatten, daß ein Kontinentalkrieg eine ernste Gefahr für ihr Vaterland bedeutete, daß Deutschland alles, was an ihm liege, getan habe, um ihm zu verhindern, daß das französische Volk ihn nicht wolle, aber von ehrgeizigen Politikern in einen Zustand überhitzter, chauvinistischer Leidenschaft versetzt worden sei, die ruhige Überlegung ausschließe; daß ebenso in Rußland der Ehrgeiz und die Rachsucht Iswolskys, sowie die panslawistische deutschfeindliche Presse einen Konflikt vorbereite, und daß endlich die von König Eduard VII. eingeleitete, von Sir E. Grey fortgesetzte Politik diese entwicklungen herbeigeführt und ihnen als Rückhalt gedient habe.

Es war ein Unglück für Belgien, daß es diesen Stimmen kein Gehör schenkte und die ihm zugestreckte deutsche Hand nicht ergriff, die bereit war und die Kraft hatte, dem Lande inmitten des Weltkrieges den Frieden und die Zukunft zu sichern.

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No. 1, seite 1

Graf Lalaing, Gesandter Belgiens in London, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.
London, den 7 Februar 1905

Herr Baron!

Die Feindseligkeit des englischen Publikums gegenüber dem deutschen Volk ist schon ziemlich alt. Sie gründet sich, wie es scheint, auf Eifersucht und Furcht. Auf Eifersucht angesichts der wirtschaftlichen und handelspolitischen Pläne Deutschlands; auf Furcht in dem Gedanken, daß die Vorherrschaft zur See, die einzige, die England für sich in Anspruch nehmen kann, ihm vielleicht eines Tages von der deutschen Flotte streitig gemacht werden könnte. Diese Vorstellungen werden noch von der englischen Presse, unbekümmert um internationale Verwickelungen, genährt und ein Seitenhieb auf den ehrgeizigen Kaiser und die geheimen Treibereien seines Kanzlers findet unfehlbar immer den Beifall der Menge.

Stoß erzeugt Gegenstoß, und so kann man eine entsprechende Verbitterung bei den deutschen Schriftstellern und Journalisten feststellen. Neulich stieß Dr. Paasche einen Warnungsruf aus auf die Kunde hin, daß die englische Admiralität des Geschwader, welches bisher im Mittelmeer stationiert war, in der Nordsee zusammenziehen wolle, und fand darin den Beweis, daß es für das Londener Kabinett keinen anderen Feind in Europa gebe als Deutschland. Letzte Woche hat der Civillord der Admiralität, Herr A. Kee, bei einem Festessen die von der Regierung kürzlich eingeführten Reformen gelobt, die es erlaubten, den ersten Streich zu führen, ehe der Gegner fertig sei, ja sogar, ehe der Krieg erklärt sei. Er fügte hinzu, daß sich die Wachsamkeit der Admiralität hauptsachlich auf die Nordsee zu erstrecken habe.

Diese Sprache hat in Deutschland großes Aufsehen erregt. Man versucht daher, den Riß wieder zu verkleistern und behauptet hier, daß die Rede des Herrn Lee falsch ausgelegt worden sei; denn die beiden Regierungen stehen auf gutem Fuß und wollen auch weiterhin gute Beziehungen pflegen: aber der chauvinistische Geist verbreitet sich im englischen Publikum, und die Zeitungen führen allmählich die öffentliche Meinung irre, die schon so weit gebracht worden ist, daß sie Deutschland nicht mehr das Recht zuerkennt, seine Seestreitkräfte zu vermehren und in seinem Marinebudget eine Herausforderung Englands erblickt.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) Graf von Lalaing

No. 2, pagina 2/3

Baron Greindel, Gesandter Belgiens in Berlin, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

Berlin, den 18 Februar 1905

Herr Baron!

Sieben Reisen, die ich seit dem 15. November unternehmen mußte und zahlreiche dringende Geschäfte, mit denen ich mich während der kürzen Zeit, die ich zwischendurch in Berlin war, zu befassen hatte, nötigen mich, meine Berichterstattung auf das Allernotwendigste zu beschränken. Aus diesem Grunde habe ich trotz des Aufsehens, das es gemacht hat, noch nicht über das Interview des englischen Journalisten Bashford bei dem Reichskanzler berichtet, das vor drei Monaten veröffentlicht wurde. Als Graf Bülow das englische Publikum wissen ließ, daß Deutschland keinerlei aggressive Absichten gegen England habe, sagte er nichts, was nicht jedem ruhigen Beurteiler bereits bekannt war. Deutschland hätte bei einem Konflikt nichts zu gewinnen. Außerdem ist es auf einen solchen Kampf nicht vorbereitet. Trotz des Wachstums der deutschen Seestreitkräfte sind diese den englischen doch noch derartig unterlegen, daß es Wahnsinn wäre, einen Krieg heraufzubeschwören. Die deutsche Flotte wurde lediglich zu Verteidigungszwecken geschaffen. Der geringe Kohlenraum der Schiffe der Hochseeflotte und die kleine Zahl der Kreuzer beweisen im übrigen, daß die Flotte nicht dazu bestimmt ist, die Küstengewässer zu verlassen. Umsomehr habe ich geglaubt, über dieses Interview nicht weiter berichten zu brauchen, da es in allen Zeitungen veröffentlicht wurde und ich mir davon keinen besseren Erfolg versprach, als von all den zahlreichen früheren Annäherungsversuchen.

Die wahre Ursache des Hasses der Engländer gegen Deutschland ist die Eifersucht, hervorgerufen durch die aussergewöhnlich rasche Entwicklung der deutschen Handelsflotte, des deutschen Handels un der deutschen Industrie.

Dieser Haß wird solange fortbestehen, bis die Engländer sich mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, daß der Welthandel kein Monopol ist, welches England von Rechts wegen zukommt. Außerdem aber wird dieser Haß von der “Times” und ein Anzahl Zeitungen und Zeitschriften sorgsam genährt, die auch Verleumdungen nicht scheuen, um dem Geschmack ihrer Leser zu schmeicheln. Man sagt, König Edward VII sei im innersten Grunde friedliebend; aber ein König von England hat auf die Politik seines Landes nur sehr wenig Einfluß. Bis zu einem gewissen Grade teilt die englische Regierung die Ansicht der Menge oder ist zum mindesten nicht fähig, gegen den Strom zu schwimmen, da sie ausschließlich von dem Unterhaus abhängt, von dem die Exekutive immer mehr in Abhängigkeit gerät.

Einer der Hauptgründe für das letzthin zwischen Frankreich und England geschlossene Abkommen, das meiner Ansicht nach noch keine genügende Erklärung gefunden hat, ist sicherlich der Wunsch gewesen, gegen Deutschland freie Hand zu bekommen. Was aber auch der heimliche Beweggrund der englischen Minister gewesen sein mag, sie sind immer der Form nach korrekt geblieben. Es war klar, daß die Neuorganisierung der englischen Flotte gegen Deutschland gerichtet war. Wenn ihr Schwerpunkt jetzt in der Nordsee liegt, so gilt dies sicherlich nicht Rußland, dessen Material zum großen Teil zerstört ist und dessen Marine soeben schlagende Beweise über ihre Unfähigkeit gegeben hat; aber es war nicht nötig es auszusprechen. Die Rede des Mr. Lee hat einen um so peinlichen Eindruck in Deutschland hervorgerufen, als der Zivillord der Admiralität verkündet hat, der Feind werde die Kanonen der englischen Flotte hören, ehe er noch Zeit gehabt hätte, durch Zeitungen die Nachricht von der Kriegserklärung zu erhalten. Mr. Lee hat also einen von England ausgehenden Angriff im Sinn.

Herr von Mühlberg sagte mir, der Kaiser habe mit dem englischen Botschafter in Berlin über die Ausfälle Mr. Lees in sehr ernstem Ton gesprochen. Dieser hat inzwischen die Wiedergabe seiner Rede öffentlich richtig gestellt, unter Verbesserung der Stellen, die in ihr für Deutschland verletzend waren. Man scheint jedoch diesem Dementi hier nur geringen Glauben beizumessen.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) Greindl

No. 3, pagina 3

Graf Lalaing, Gesandter Belgiens in London, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

London, den 1 April 1905

Herr Baron!

Wie Sie wissen, ist der Deutsche Kaiser in England unbeliebt, vor allem seit seinem historisch gewordenen Telegramm, und Sie kennen die geringe Sympathie, welche dieses Volk für Deutschland empfindet. Der Besuch des Kaisers in Tanger hat nicht verfehlt, unfreundliche Artikel in der Presse hervorzurufen, die glücklich über diese Gelegenheit war, ihre schlechte Laune dem Herrscher eines Landes gegenüber auszuschütten, das ein wirtschaftlicher Nebenbühler Englands ist, das sich eine Kriegsflotte ersten Ranges schaffen will und das gegenwärtig die Marokkaner in ihrem stummen Widerstand gegen die Unternehmungen Frankreichs ermütigt.

Man besorgt, daß Deutschland auf der Aufrechterhaltung der offenen Tür in Tanger bestehen, für die Unabhängigkeit des Sultanats eintreten, und so die Politik der “friedlichen Durchdringung”, die von Frankreich unternommen und von England gebilligt worden ist, behindern könnte. Man scheint davon überzeugt, daß der Kaiser durch seine Reise nach Tanger nicht nur Frankreich, sondern auch dem Freunde dieses Landes eine Lehre hat erteilen wollen.

Diese britische Empfindlichkeit Berlin gegenüber bestehet seit langem; aber es ist beunruhigend festzustellen, daß sie zunimmt, anstatt sich zu verringern. Bis jetzt hat sich das englische Kabinett noch nicht zu äußern brauchen, und die Frage ist in der Kammer nicht aufgeworfen worden; aber nach einem Gerücht, welches im Publikum umgehet, wird man die Haltung Kaiser Wilhelms durch eine britisch-französische Demonstration beantworten, in der Form von gegenseitigen Flottenbesuchen im Laufe dieses Sommers, ganz wie 1893, als die russische Flotte nach Toulon kam, um die französisch-russische Freundschaft zu befestigen.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) Graf von Lalaing

No. 4, pagina 4/5

Herr A. Leghait, Gesandter Belgiens in Paris, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

Paris, den 7 Mai 1905

Herr Baron!

Die Anwesenheit des Königs von England in Paris in einem Augenblick, wo die durch die Ereignisse von Tanger eingetretene Spannung noch besteht, hat eine Bedeutung, der man zwar ernste Aufmerksamkeit schenken muß, die aber anderseits nicht übertrieben werden sollte. Der König hatte keinerlei Verpflichtung, sich jetzt nach Paris zu begeben, und wenn er es getan hat, so will er offenbar damit Frankreich in diesem Augenblick einen neuen Beweis seiner Freundschaft geben und angesichts besonderer Umstände die Solidarität zwischen der Unterzeichnern des Abkommens vom 8 April 1904 hervorheben. Diese Solidarität ist in der Tat deutlich und mit Nachdruck bekräftigt  worden, aber ohne geflissentliches Zurschautragen, ohne Trinksprüche und ohne öffentliche Kundgebungen. Der König hat sich indessen nicht darauf beschränkt, seine Gefühle und Absichten Herrn Delcassé und den übrigen französischen Staatsmännern mitzuteilen, er hat vielmehr darauf Wert gelegt, daß der Berliner Hof davon unterrichtet werde. Er has sich deshalb nach dem Diner in Elysée des längeren mit dem deutschen Botschafter unterhalten, dem gegenüber er sich anscheinend recht deutlich ausgesprochen hat. Der Inhalt dieser wichtigen Unterredung wurde Herrn Delcassé mitgeteilt, aber der Wortlaut wurde geheim gehalten.

Das Schweigen, das Deutschland trotz der Aufforderung Herrn Delcassé, alle Mißverständnisse durch eine Aussprache zu zerstreuen, andauernd beobachtet, läßt die hier herrschende Nervosität nicht zur Ruhe kommen, und man fragt sich, wann und wie man aus der falschen Situation herauskommen wird, in der man sich befindet. Gestern noch ist Fürst Radolin von Herrn Delcassé empfangen worden, er hat ihm allerhand Liebenswürdigkeiten aufgetischt, aber die marokkanische Frage nicht berührt. Man gefällt sich in dem Glauben, daß der Besuch Kaiser Wilhelms in Tanger eine auf die persönliche Initiative des Kaisers zurückführende Demonstration war, und daß man in Berlin die Rückkehr Seiner Majestät abwarte, um die daraus sich ergebenden Folgen zu regeln.

Man erzählt mir, daß der Gedanke einer Konferenz, die die Aufgabe hätte, das Werk der Konferenz von Madrid von 1880 forzuführen und zu ergänzen, aufgegeben worden sei, weil keine einzige Macht diesem Gedanken günstig gegenübergestanden habe, und weil nicht anszunehmen sei, daß der Sultan von Marokko die Initiative zu einem solchen Vorschlage ergreifen woll. In den Regierungskreisen behauptet man, die französisch-englischen und französisch-spanischen Abmachungen ständen nicht im Widerspruch mit dem Geist der Konvention von Madrid; hierüber habe man weitgehende Erklärungen abgegeben. Das Vorgehen Frankreichs in Marokko erfolge in voller Uebereinstimmung mit England, Spanien un Italien auf volkommen korrekter Grundlage, während die Haltung Deutschlands zur auf Befürchtungen und Argwohn beruhe, die durch nichts gerechtfertigt und für Frankreich verletzend seien.

Wenn sie auch alle Parteiführer zur Zeit nach Lage der Dinge für verpfilchtet halten, die marokkanische Politik Herrn Delcassés zu unterstützen, so kann man darum noch nicht sagen, daß sie sie billigen; nicht wenige von ihnen hatten ihn voher darauf aufmerksam gemacht, da man diese Frage, die man seit langem studiert und deren Gefahren man immer erkannt habe, nicht anschneiden dürfe. Herr Delcassé glaubte, daß das Einvernehmen mit England diese Gefahren beseitigt habe, und aus der Moment günstig sei, um den französischen Einfluß in diesem Teile Afrikas auszudehnen. Man sagt ihm heute, daß die Haltung Englands trügerisch und daß die Vereinbarung mit Spanien, zu der Frankreich gezwungen worden sei, der erste Beweis dafür war. Man weiß in der Tat, daß die geheimen Bestimmungen dieses Vertrages Spanien in der Organisation des Finanz- und Geldwesens Vorteile gewähren, und daß in der für den Eventualfall vorgesehenen Verteilung der Einflußzonen Frankreich von Tanger und dem wichtigsten Teil der Küste abgedrängt wird.

Das französisch-spanische Abkommen ist den Mächten von den beiden interessierten Ländern in Ergänzung zum französisch-englischen Abkommen mitgeteilt worden. Deutschland mußte daher diese Abkommen kennen; die Haltung, die es in der Folge eingenommen hat, kann nur auf politischen Erwägungen allgemeiner Natur begründet sein oder nur der Besorgnis entspringen, daß die in Fez begonnenen Verhandlungen mit stillschweigender Zustimmung Englands ein Ergebnis von bedeutend größerer Tragweite haben könnten, als bisher zugegeben wurde. Nach Erkundigungen  an autoritativer Stelle glaubt man nicht, daß das Abkommen vom 8 April 1904 noch geheime Bestimmungen erhält, aber man nimmt an, daß ein gewisses stillschweigendes Uebereinkommen besteht, nach welchem England Frankreich in Marokko ziemlich große Bewegungsfreiheit läßt, vorbehaltlich der geheimen Bestimmungen des französisch-spanischen Abkommens, die, wenn nicht von dem Londener Kabinett diktiert, so doch wenigstens von ihm energisch vertreten worden sind.

Wenn man versucht ist, der wohlwollenden Politik Englands gegenüber Frankreich in der Marokkofrage etwa machiavellische Absichten zu unterstellen, so wird man doch nicht so weit gehen, anzunehmen, daß die englischen Gedanken und Pläne im Hinblick auf allgemeine Verwicklungen schriftlich formuliert worden sind. Es liegt näher anzunehmen, daß die gegenwärtigen Schwierigkeiten die Kabinette von Paris und London überrascht und eine Situation geschaffen haben, die man nicht vorausgesehen hatte, und für deren mögliche allgemeine Konsequenzen man dabei keine Abmachungen getroffen hat. Es ist besonders dieser Mangel an voraussicht, den man Herrn Delcassé vorwirft, und seine politischen Gegner, die ihm gegenüber mit ihren Warnungen nicht gespart hatten, werden nicht verfehlen, wie auch immer der Ausgang der augenblicklichen Krise sein möge, diese zu benützen, um seinen Rücktritt zu verlangen.

Dadurch, daß sich die unklare und beunruhigende Situation, in der man sich befindet, ungewöhnlich lange hinzieht, wird die Unsicherheit der Stellung des Ministers des auswärtigen Angelegenheiten nur noch erhöht, und das ist es vielleicht, was man in Berlin will. Man ist sehr gespannt auf die Rede, die Kaiser Wilhelm am 11.d.M. in Gravelotte halten wird, und der rein zivile Charakter, den er dieser Feier geben will, läßt hoffen, daß er dieße Gelegenheit benutzen wird, um den Eindruck seiner Landung in Tanger abzuschwächen. Wie dem auch sei, das Vertrauen, das in die deutsch-französischen Beziehungen zurückgekehrt war, ist wieder verschwunden, und man ist wieder an demselben Punkt angelangt, an dem man sich vor ungefähr zwanzig Jahren befand.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) A. Leghait

No. 5, pagina 6

Graf Lalaing, Gesandter Belgiens in London, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

London, den 8 Juni 1905

Herr Baron!

Die Nachricht von Delcassés Rücktritt ist von den Organen der britischen Regierung mit Bedauern aufgenommen worden. Die englandfreundliche Politik des ehemahligen Ministers des Aeußeren, der so tatkräftig von dem Botschafter Frankreichs in London unterstützt wurde, hatte zu einer Entente geführt, deren vollen Wert die jüngsten Ereignisse erwiesen haben, und die hier herrschende Ungewißheit über die Richtlinien, welche sein Nachfolger der französischen Politik geben wird, erfüllt die öffentliche Meinung mit Besorgnis.

Wenn die “Times” auch Herrn Delcassé zur Vollendung des Großen Werkes beglückwunscht, gibt sie dennoch zu, daß er hinsichtlich Marokkos verabsäumt habe, die Lage in Betracht zu ziehen, welche sich aus einer Niederlage Rußlands im fernen Osten ergeben und die Deutschland die Möglichkeit bieten könne, dadurch einzugreifen, daß es den Sultan in seinem Widerstand gegen Frankreichs Pläne ermutige.

In der Tat schien es anfangs, daß Deutschland sich keineswegs um das englisch-französische Abkommen gesorgt habe, und darauf bedacht gewesen sei, nicht zu verraten, wie es sich die erzwungene Passivität Rußlands in den europäischen Angelegenheiten zunutze machen werde. Es ist nichtsdestoweniger der Fehler Delcassés, daß er geglaubt hat, bei Regelung einer Frage von Großen kommerziellen Interesse für Deutschland auf die Zustimmung dieses Landes verzichten zu können. Das Cityblatt drückt den Wunsch aus, daß Herr Roubier, der als Nachfolger Delcassés in Aussicht genommen ist, die Entente cordiale fortsetzen werde, die mehr geworden sei als ein Politik der Regierungen, nämlich ein wirklicher Bund der beiden Völker. Für diesen Fall sichert das Blatt der französischen Regierung auch weiterhin die loyale Unterstützung Englands zu.

Ohne Frankreich vorgreifen zu wollen, erklärt das konservative Organ, daß, falls die Regierung der Republik sich weigern sollte, an der von dem Sultan von Marokko vorgeschlagenen Konferenz teilzunehmen, England ebenso handeln werde, und daß in diesem Punkte wie in allen übrigen die britische Regierung getreulich an der Politik festhalten werde, auf der das Abkommen beruhe, welches sie mit Frankreich und Spanien geschlossen habe.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) Graf von Lalaing